DER
SPIEGEL 39/2000 URL: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,95980,00.html RECHTSEXTREMISMUS Erstmals gewähren drei Aussteiger einen Einblick in die Neonazi-Szene. Mit Mühe entkamen sie einer kriminellen Schattenwelt, in der bierselige Glatzen und glühende Hitler-Verehrer dem Germanenkult frönen. Jetzt müssen sie sich vor Gericht für etliche Straftaten verantworten. Die Schatten der Vergangenheit hängen immer noch in der Wohnung. Da ist der drei Quadratmeter große schwarze Sternenhimmel im Wohnzimmer, wo früher die Hakenkreuzfahne an die Wand gemalt war. Da sind die beiden schneeweißen Kleckse an der Decke, die jene Rußspuren verbergen, die die Öllampen rechts und links vom Hitler-Relief hinterlassen haben. Im Schlafzimmer, wo heute das Filmplakat des Tarantino-Klassikers "From Dusk Til Dawn" hängt, prangten früher Hitler, Heydrich und Heß. "Schrecklich" findet Carla, 36, jene Zeit. Ihre Tochter Tina, 17, "will mit dem ganzen Scheiß nichts mehr zu tun haben". Hans, 24, der Kopfmensch, sucht vergeblich nach einer Erklärung, die irgendwie wissenschaftlich klingt: "Damals kamen wohl Benzin und Streichholz zusammen." Wegen möglicher Racheakte aus der Szene hat der SPIEGEL die Namen der Aussteiger verändert. Es ist noch kein Jahr her, dass die Tochter, die Mutter und deren Verlobter im inneren Zirkel der deutschen Neonazi-Szene steckten: Sie fuhren mit Schläger-Skins auf Demonstrationen, erlebten bedingungslosen Führerkult und nahmen an konspirativen Sonnenwendfeiern teil. Sie fachsimpelten mit verurteilten Straftätern und führenden Neonazis über das "Vierte Reich". Mutter und Tochter schändeten einen jüdischen Friedhof. Bald schon stehen sie in Mainz vor Gericht. Auf einen Anwalt verzichten sie, verteidigen könne man ihre Straftaten nicht. Carla, Tina und Hans sind Aussteiger, die die rechte Szene aus eigenem Antrieb verlassen haben. Im SPIEGEL berichten die drei erstmals von Zirkeln und Ritualen, die der Öffentlichkeit bislang verborgen waren; sie erzählen aus einer Welt, in der Anführer und Ideologie des mörderischen Nazi-Systems in einem Gewirr von Gruppen und Grüppchen verehrt und verbreitet werden. Sie erlebten die Nähe zwischen der NPD, ihrer Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) und gewaltbereiten Skins. Diese symbiotische Beziehung zwischen der vermeintlich biederen Partei und militanten, neonazistischen Skingruppen wie "Blood and Honour" (Blut und Ehre), mittlerweile in Deutschland verboten, veranlasst die Innenminister von Bund und Ländern, ein Verbot der NPD zu prüfen. Das Trio hatte Zugang zu streng abgeschirmten Organisationen wie der "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige" (HNG) oder der "Artgemeinschaft", beide als eingetragene Vereine steuerbegünstigt. In der Artgemeinschaft predigt der einschlägig vorbestrafte Neonazi Jürgen Rieger, 54, die artgleiche Vermehrung. Offen sprechen die drei auch über die finstere Faszination der Glatzen und ihrer Einpeitscher. Sie fühlten sich aufgehoben und zugehörig. Vor allem aber glaubten sie sich anderen Menschen überlegen. Farbigen brüllten Mutter und Tochter "Nigger" hinterher, im Supermarkt nahm Hans keine Cornflakes-Packung, die zuvor eine Ausländerin berührt hatte. Die Geschichte der drei Aussteiger illustriert, wie schnell der Einstieg in die Szene vollzogen ist, wie umfassend sich das braune Netz eines Lebens bemächtigt. Die üblichen Erklärungsmuster reichen dabei nicht aus, das Phänomen Rechtsextremismus zu entschlüsseln. Denn das Trio mag zwar nicht in Musterfamilien groß geworden sein, aber keiner von ihnen kommt aus dem sozialen Elend. Sie stammen aus der Mitte der deutschen Normalität. "Wir waren keine Opfer von irgendwelchen Umständen", erklären Carla und Hans übereinstimmend. In ihrem Leben sei zwar einiges schief gelaufen, so Carla, "aber es gab genug Situationen in denen ich hätte sagen müssen: 'Horch mal, du bist 35 Jahre alt. Stopp!'" Mit der totalen Hingabe, die früher der braunen Szene galt, widmen sie sich jetzt ihrem Ausstieg. Über die Internet-Homepage "nazis.de", einer Selbsthilfe-Seite, haben sie Unterstützung gefunden. Carla sitzt vor dem Computer und beantwortet unermüdlich elektronische Post. Eine jüdische Briefpartnerin aus dem Internet hatte soeben Zweifel an Carlas Ausstiegswillen geäußert. Da stürzt der Rechner ab. Carla ist aufgelöst. Weint. Sie schüttelt den Kopf und verflucht mit tränenerstickter Stimme die Technik. Carla weint oft. Wegen der Erinnerung an das, was sie gemacht hat, aus Enttäuschung über die Zweifel an ihrem Ausstieg, beim Gedanken an eine mögliche Haftstrafe. "Gleichgültig" sei sie gewesen, "das war mein größter Fehler". Aber sie war auch neugierig, auf diese geheimnisvolle Sonnenwendfeier zum Beispiel, mit der alles begann. Ein krasses Abenteuer Endlich war es so weit: Hüttenbauen im Wald, Lagerfeuer, im Freien kampieren mit national gesinnten Aktivisten. Aufgeregt machten sich Carla und Tina auf den Weg Richtung Pirmasens zu ihrer ersten Sonnenwendfeier. Den Veranstaltungsort kannten, so ihr Eindruck, nur Eingeweihte, schließlich vermuteten sie: Dort treffen sich die Spitzen der nationalen Bewegung. Die Sonnenwendfeier, auf der einst Kelten und Germanen die längste Nacht des Jahres begingen, hatte im Mythenmix der Nationalsozialisten ihren festen Platz. Quasi religiöser Feuerzauber, weihevolle Sprüche und dramatische Kranzverbrennungen zu Ehren der Parteimärtyrer sollten vor allem die Hitlerjugend in den Bann des Braunen ziehen. Umso gewaltiger war die Enttäuschung für Carla und Tina. Statt gestählter Kämpfer trafen sie angetrunkene Skins und kichernde Mädchen von der rechtsradikalen "Jungen Landsmannschaft Ostpreußen". Zeremonienmeister war Wilhelm Herbi, den viele nur "Feld-, Wald- und Wiesen-Nazi" nannten, obwohl er mal NPD-Landesvorsitzender von Rheinland-Pfalz war. Herbi will von Auschwitz nichts wissen: "Das, was eine Anne Frank, ein Simon Wiesenthal oder ein Ellie Wiesel mitgemacht haben, waren geregelte Lageraufenthalte in einer schlechten Zeit. Da gab es Betten und Decken." Mutter und Tochter traten eher schüchtern in den Kreis der Metseligen. Zwar hatte es geheißen, es gebe den betäubenden Honigtrunk erst nach Entfachen des germanischen Feuers, aber daran hielt sich keiner der zwei Dutzend Anwesenden. Befremdet gingen die Neulinge in den Wald, um Holz zu sammeln. Dabei begleiteten sie die abschätzigen Blicke der Älteren. In Erwartung großer Abenteuer hatten Carla und Tina T-Shirt, Jeans und Turnschuhe angezogen. Die Männer wünschten sich dagegen ein deutsches Mädel sittsam im Kleid. Herbi, der seine Jünger stocknüchtern in Erinnerung hat, mühte sich mit Hans, der Feier etwas Würde zu verleihen. Das fiel nicht leicht nach all dem selbst gepanschten Met, wie er das Gebräu aus billigem Wein und Honig nannte. Der Hobby-Germane, der fest daran glaubt, die Galaxie sei wie ein Hakenkreuz geformt, wies Carla in die "heilige" Zeremonie ein. Sie bekam ein weißes Bettlaken, angeblich vor drei Wochen geweiht. Widerstrebend streifte Carla das Tuch über. Nur in diesem Aufzug, bedeutete ihr Herbi, dürfe sie die Feuersprüche aufsagen. Mit drei anderen Frauen, für jede Himmelsrichtung eine, gruppierte sie sich um das aufgeschichtete Holz. Weihevolle Reden wurden vorgetragen, dann waren die Frauen an der Reihe. "Ich bin der Norden und bringe das Feuer", rief die erste. Die anderen folgten. Das Feuer wurde entfacht, die alkoholisierte Schar lallte ein paar Lieder. Das Besäufnis nahm seinen Lauf. Mutter und Tochter fühlten sich unwohl. Enttäuscht wollten sie aufbrechen. Statt der versprochenen Geländeübungen und Orientierungsmärsche waren sie in einer versoffenen Horde gelandet, die mit seltsamen Heldentaten wie dem "Kekswichsen" prahlte. Dabei stellen sich Skins um einen Keks auf, onanieren um die Wette und zielen mit ihrem Sperma auf das Knabberwerk. Wer als Letzter kommt, muss unter dem Johlen der anderen den Keks vertilgen. Vielleicht gaben die Skins auch einfach nur an. Es war Hans, der die Frauen zum Bleiben bewog. Mit seinem korrekten Scheitel und dem Bärtchen unter der Nase sah er aus wie ein Überbleibsel aus der Hitlerzeit sauber, anständig, ganz anders als die tumben Skins. Hans wusste mehr, hatte schon viel bessere Sonnenwendfeiern erlebt, mit der Artgemeinschaft zum Beispiel, einem rechtsextremen Zirkel, dessen Mitglieder sich dem germanischen Glauben und "Härte und Hass" gegen ihre Feinde verschrieben haben. Hans schwadronierte von Kaderorganisationen und versprach, wonach sich Carla und Tina gesehnt hatten: "Ein krasses Abenteuer." Bei den Altnazis So albern der Kitschkult im Wald anmutete, so schwer war es gewesen, an eine Einladung zu kommen. Die Teilnahme an jener Sonnenwendfeier war für Mutter und Tochter Teil des Verbotenen, das sie gesucht hatten. Konspirativ wurde der Ort in der Szene gehandelt. Er war geheim für Außenstehende und somit wichtig. Carla und Tina stellten zuvor ihre Zuverlässigkeit unter Beweis bei Ursel und Curt Müller aus Mainz-Gonsenheim. Die beiden Altnazis führen neben ihrer Gärtnerei die größte legale Neonazi-Vereinigung, die Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V. mit über 500 Mitgliedern. Die HNG betreut so genannte nationale Gefangene wie den skrupellosen Polizistenmörder Kay Diesner, den Brandstifter von Solingen, Christian Reher, oder den berüchtigten Hardcore-Skin Christian Hehl. Der eingetragene Verein schickt den Inhaftierten direkt in die Zelle seine "Nachrichten der HNG". Das Blättchen bietet frische Informationen aus der Szene und gibt Mitgliedern Tipps für den korrekten Briefwechsel mit Gefangenen. Die Umsorgten bedanken sich artig "Heil Dir, liebe Ursel" mit ein paar Zeilen für die Leserbriefseiten. Das Haus der Müllers gleicht einem Hitler-Museum. Der Führer hängt als Bleistiftzeichnung über der Küchentür, gleich drei Holzbüsten stehen im Regal. Horst Wessel, der Barde Adolf Hitlers, ziert den Klo-Eingang. Stolz verkündet Ursel Müller, diese Dinge seien schon lange ihr Eigentum. Für Ideologie ist Curt zuständig. Seine Briefe schmückt er mit Stempeln wie "Politisch Verfolgter der Demokratie", "Neonazi. Betrachten wir das Wort als Ehre" oder "Das Dogma Auschwitz musst Du glauben, sonst legt man Dich in Daumenschrauben". Ursel, offizielle Chefin der HNG, übernimmt dagegen den mütterlichen Part. Weihnachten, so erzählt man sich, soll sie schon mal Plätzchen in Hakenkreuzform backen. Bei den Müllers finden Tochter Tina und Mutter Carla, wonach sie ihr Leben lang gesucht hatten: eine Familie, ein Zuhause. Vertrauensvolle Beziehungen hatte Carla bis dahin selten erlebt. Bindungen bedeuteten für sie immer Lügen und Gewalt, manchmal sogar Tod. Im Glauben, eine Halbwaise zu sein, wuchs sie nahe Mainz bei ihrer Mutter und einem ältlichen Universitätsprofessor auf. Bei einem Autounfall sei ihr Vater gestorben, erzählte die Mutter, eine Oberstudienrätin. Ihre ganze Kindheit hindurch erfuhr Carla nicht, dass jener greise und unzugängliche Professor ihr Vater ist. Wie viele Kinder, die ohne Vater aufwachsen, wollte das Mädchen schon früh ihren Mann stehen, spielte Fußball und baute Baumhäuser. Carla begeisterte sich für alles, was sich als Fluchthelfer aus ihrem öden Leben anbot. Mit 16 experimentierte sie mit Drogen. Als ihre beste und einzige Freundin an einer Überdosis Heroin starb, suchte Carla Trost in einer Brieffreundschaft zu einem sechs Jahre älteren Mann in München. Dass er NPD-Funktionär war, störte die 18-Jährige nicht. Der Brieffreund bot das Ticket in die Freiheit. 1983 heiratete sie den Nationalisten und zog nach München. Dort, in der Wohnung des NPD-Mannes, stand sie später zum ersten Mal in ihrem Leben unter der Reichskriegsfahne. Die große Freiheit war es nicht. Ihr Mann jobbte als Bote, Carla faltete in der NPD-Geschäftsstelle Flugblätter und verschickte die "Deutsche Stimme", Hauspostille der NPD. Die Miete bezahlte ihr Großvater. Die Parteiversammlungen ödeten sie an. Zur Enttäuschung ihrer Freunde brachte Carla noch 1983 eine Tochter zur Welt Tina. Dennoch gewann ihr Vater einen prominenten Taufpaten: Günter Deckert, inzwischen mehrfach verurteilter Holocaust-Leugner und früherer Chef der NPD. Carlas Traum von der glücklichen Familie währte im deutschnationalen Milieu nicht lange. Der Ehemann verlangte Gehorsam, wurde handgreiflich und drohte schon mal dem Kind. Sie klammert sich an den Traum von der Familie, er bleibt immer öfter fort von zu Hause. Carla bringt ein zweites Kind zur Welt, endlich einen Sohn. Doch als der Säugling den plötzlichen Kindstod stirbt, ist die Ehe endgültig zerrüttet. Die dritte Schwangerschaft, Folge einer Vergewaltigung in der Ehe, bricht Carla ab. Sie lässt sich scheiden, tritt aus der NPD aus, kehrt mit ihrer Tochter Tina nach Mainz zu ihrer Mutter zurück und stürzt sich in ihr nächstes Abenteuer. Die eben noch folgsame Frau eines Deutschnationalen verliebt sich in einen GI, einen Hispano-Amerikaner. Gemeinsam wollen sie in die USA auswandern. Doch Tochter Tina darf wegen des geteilten Sorgerechts nicht mit. Carla entscheidet sich, ohne Kind nach Amerika zu gehen. Sie verliert das Sorgerecht. Ihre Tochter muss wieder nach München ziehen, wo sie ihr Vater bald darauf in ein Heim steckt. Vorerst genießt Carla das Leben inmitten der GIs. Sie lebt in Wohnwagenparks, robbt bei Überlebenskursen durch den Schlamm und tobt sich aus. Doch die Sehnsucht nach der Tochter wird stärker. Sie will zurück. 1993 quittiert ihr neuer Ehemann den Dienst in der US-Army und folgt Carla nach Deutschland. Die nächste Katastrophe bahnt sich an. Zwar kann sie endlich ihre Tochter besuchen, aber der Gatte hängt an der Wasserpfeife, versackt, bis Carla ihn 1995 aus der gemeinsamen Woh-
nung wirft. Fortan kämpft sie um das Sorgerecht für ihre Tochter. Tina hat unterdessen eine neunjährige Heimkarriere hinter sich. Ein Aufenthalt bei Pflegeeltern scheitert an der Tablettensucht der Ersatzmutter, die auch Carlas Briefe aus der Neuen Welt abgefangen hat. Wieder landet sie im Heim. Ihr Vater besucht sie selten. Carla erhält 1997 das Sorgerecht zurück. Mutter und Tochter gewöhnen sich schnell wieder aneinander. Die Mittdreißigerin und der Teenager geben sich jene Geborgenheit, die beide vermisst haben. Das Leben gewinnt an Ordnung. Tina geht auf die Realschule, Carla arbeitet bei Edeka, gibt in der Nachbarschaft Nachhilfe in Englisch und putzt bei ihrer Mutter. Doch wieder droht die Langeweile. Als müssten sie ihre Jugend nachholen, suchen Mutter und Tochter das Abenteuer, das Schräge, das Ausgeflippte. Sie hängen in Mainz mit US-Soldaten herum. Dass Farbige darunter sind, stört sie nicht. Sie probieren verwegene Rollen aus und rasieren sich die Schädel so wie Demi Moore. Die Hollywood-Schauspielerin mimt im Film "Die Akte Jane" einen weiblichen GI, der sich in der Machowelt der US-Armee behauptet. Ab sofort ziehen sie im gefleckten Kampfdress der Army durch die Gegend und züchten sich Muskeln an. Doch die Rollenspiele enden so abrupt, wie sie begonnen haben. Kleinste Begebenheiten ändern ihre Haltungen radikal. Nach einem missglückten Flirt mit einem schwarzen Soldaten entdecken Mutter und Tochter ihre Abneigung gegenüber allem Nichtdeutschen. Fernsehdokumentationen über Hitlers Wehrmacht wirken wie eine Einstiegsdroge. Im Frühjahr 1999 erinnert sich Carla an ihre Zeit in der NPD-Zentrale in München. Sie lesen die Hauspostille des rechtsextremen Verlegers und DVU-Chefs Gerhard Frey, die "National-Zeitung". Die Soldatenporträts finden sie spannend. Plötzlich fallen ihnen Zeitungsberichte über kriminelle Ausländer auf. Berichte aus der geheimnisvollen Welt der Neonazis finden sie so aufregend, dass Mutter und Tochter Kontakt in die rechtsextreme Szene suchen. Am 20. April 1999, Führers Geburtstag, fahren sie nach Mainz-Gonsenheim. In der Gegend ist Carla aufgewachsen. Und jeder Einheimische weiß, dass hier die Müllers wohnen. Von denen heißt es, sie begrüßten und verabschiedeten gleichgesinnte Gäste zackig mit erhobenem rechtem Arm, was Ursel Müller bestreitet. An diesem Donnerstag stehen sie vor einem mächtigen Stahltor, bewehrt mit einer grünen Sichtblende und Stacheldraht auf der Mauer. Gelegentlich schießt Ursel Müller mit einem Eimer Wasser aus der Burg und verscheucht die "Systempresse". Ein kleiner Schaukasten mit dem Bild des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß signalisiert den beiden Besucherinnen, dass sie richtig sind. Zwar bleibt das Tor verschlossen, aber ein Winken aus dem Festungsfenster macht Mutter und Tochter Hoffnung. Sie schreiben Briefe und Müllers antworten tatsächlich. Das Tor sei vormittags für ein paar Stunden geöffnet, sie könnten ja mal vorbeischauen. Zwischen Mutter und Tochter entbrennt vor dem zweiten Besuch ein heftiger Streit. Wer darf das T-Shirt mit dem Aufdruck "Ein Herz für Deutschland" tragen? Tina gewinnt. Wenig später stehen sie im Müllerschen Gärtnereibetrieb. Die HNG-Chefin bindet Blumen, gibt sich herzlich und vermittelt den beiden das Gefühl, sie prüfe die Gesinnung der Neuzugänge. Die Frauen bestehen die ersten Tests. Auch als Ursel Müller mit Schändungen jüdischer Friedhöfe prahlt, zeigen Mutter und Tochter keine Abscheu. Ursel Müller, im Mai 1999 wegen Aufstachelung zum Rassenhass auf Bewährung verurteilt, nennt dagegen die Erinnerungen der Frauen "Märchen". Zu Friedhofsschändungen aufzurufen "würde mir nie in den Sinn kommen", lässt sie den SPIEGEL wissen. Die ebenso kalte wie herzliche Alte wird schnell zu einer Art Ersatzmutter. Carla hilft ihr beim Putzen. Sie fühlt sich ernst genommen, fühlt sich wichtig, wertvoll, akzeptiert. Die Frauen haben den Eindruck, dass Ursel Müller spürt, sie wollen mehr als Ideologie und Herzlichkeit. Nach gut drei Monaten ruft Ursels Bekannter Wilhelm Herbi an und lädt zur Sonnenwendfeier, auf der "im Schweiße des Angesichts geschuftet wird", bevor das Feuer brennt. Rede im Feuerschein Die Einladung hatte zu viel versprochen bis auf Hans. Er war keiner von diesen Proll-Glatzen, sondern diente bei der Bundeswehr und arbeitete an seinem Bild als künftiger Ideologe der neonazistischen Bewegung. Bei den Jungen Nationaldemokraten in Hessen war er zum Beisitzer in den Landesvorstand aufgerückt. Seine geschliffene Rede im Feuerschein beeindruckt die Frauen. Die Vergangenheit mutete Hans stets märchenhaft und abenteuerlich an. Sein Großvater erzählte Heldengeschichten vom Krieg und erklärte den Antisemitismus auf die katholische Art: "Die Juden haben unseren Herrgott ans Kreuz genagelt, die werden ihr Fett schon wegkriegen." Wenn der Junge Hans mit Freunden Spielzeugarmeen bewegte, kommentierte Opa fachkundig das Kampfgeschehen: Maschinengewehre nannte er "Hitlersensen" und die Gasmaske, prahlte er, habe er damals in zehn Sekunden aufgesetzt. Das folkloristisch braune Weltbild prägte die Kinderzeit. Ein Jägerfreund des Vaters nannte den Hochsitz "Wolfsschanze", andere besiegelten das Ende eines Halalis mit Bierflaschen, die als Hakenkreuz aufgestellt wurden. Zum Abschied ließen die Weidmänner Hermann Göring hochleben. Fasziniert studierte der dickliche Hans mit 14 die "National-Zeitung". Als der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl während der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen endgültig auf die ehemaligen Ostgebiete verzichtet, empört er sich. Hans schreibt dem DVU-Parteichef Frey einen Brief, in dem er sein "Entsetzen" mitteilt. Beeindruckt hält der Hauptschüler wenig später Freys Antwortschreiben in den Händen. Hans machte den Hauptschulabschluss, eine Dreher- und Bäckerlehre und versuchte sich als Rodeoreiter in einer Showtruppe. Die "National-Zeitung" begleitet ihn. Im Werbeprospekt aus einem rechtsextremen Versandhandel wurde er auf den nationalen Liedermacher Frank Rennicke aufmerksam. Hans bestellte eine CD. Rennicke, ehemaliges Mitglied der heute verbotenen Wiking Jugend, ist der neue Barde der Bewegung, den alle kennen, vom Nachwuchsskin bis zum Altnazi. Hans schrieb dem braunen Sänger und fragte, wie er der nationalen Sache dienen könne. Wieder kam die Antwort prompt. In einem Laden in Ludwigshafen könne er sich informieren und gleich für die NPD-Demo anmelden, am 1. Mai 1998 in Leipzig. Der erste Kontakt mit der Szene ist ein Schock für Hans. Ein wuchtiger Glatzkopf stellt sich ihm in den Weg: Christian Hehl, 30, wegen Körperverletzung und Volksverhetzung mehrfach verurteilter Neonazi. Der Schläger darf sein eigenes Geschäft betreiben, bis der Szene-Treffpunkt auf Druck einer Bürgerinitiative geschlossen wird. In "Hehls World" gibt es alles, was Glatzen glücklich macht: einschlägige T-Shirts, Musik, Messer und vor allem Termine. Eingeschüchtert meldet sich Hans für die Leipziger Demo an. Seine Vorstellungen von der Szene sind rührend. Weil er sich zu Hause angelesen hat, dass die Nationalen sauber und ordentlich sind, kommt er wie Haiders Bergbub zum Bus, in weißem Hemd und Trachtenjanker. Die bierseligen Skins johlen. In der "Bild am Sonntag" wird der ordentliche junge Mann auf einer halben Seite abgebildet. Hans ist zufrieden, schließlich hatte er sich ohne Scheu den Kameramännern und Fotografen gestellt. "Besser, die nehmen mich als so einen Hauer von Skin", denkt er. An die Bierbäuche der Glatzen mit den gewaltigen Tätowierungen kann sich Hans dennoch nicht gewöhnen. Auch andere Nationale versprechen Wehrsportübungen und Zeltlager, dabei wollen sie nur saufen. Er wird von den Kameraden verhöhnt, weil er sich wäscht und nicht mittrinkt. Notgedrungen akzeptiert er die Bande, weil sie für Präsenz auf den Straßen sorgt. Dass sie ihn als "Scheitel" verlachen, ihn verprügeln, als sich versehentlich in der Mannheimer "Schmuckerstube" ein Schuss aus seiner Schreckschusspistole löst, nimmt er hin. Denn inzwischen hat auch Hans seine Clique gefunden, die JN. Mit ihnen begeht der Szene-Lehrling seine erste Straftat. Im August 1998 bepflastert er mit drei Jungnationalen die Rheinpromenade in Worms mit JN-Propagandamaterial. Plötzlich fahren vier Polizeiautos und zwei Busse vor. Hans springt in eine Hecke. Als seine Kameraden verhaftet werden, erhebt er sich: "Hallo, ich bin auch noch da", ruft er, um nicht als Feigling zu gelten. Die Beamten erweisen sich als harmlos. Nach einer Nacht auf dem Revier werden den Jungnazis die JN-Aufkleber wieder ausgehändigt. Die Ermittlungsbehörden dürfen nur ein Exemplar beschlagnahmen. Auf dem Rückweg verkleben sie die restlichen Sticker. Durch die JN lernt er einstige Kader der verbotenen "Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei" (FAP) kennen. Auf einer Ungarnfahrt trifft er erstmals einen der Wichtigen im braunen Netzwerk: Friedhelm Busse, 71, Ex-FAP-Chef, bis zu seinem Parteiausschluss 1971 Mitglied der NPD, verurteilt wegen Volksverhetzung, Sprengstoff- und Waffenbesitz und Weiterführung einer verbotenen rechtsextremen Organisation. Der grauhaarige Altnazi ist eine Legende, weil er Adolf Hitler die Hand geschüttelt haben will. Der eifrige Junge kommt an. Busse verkauft Hans eine Jubiläumsausgabe von Hitlers "Mein Kampf" für 70 Mark, dafür mit Widmung: "Ohne Mut keine Freiheit! Keine Freiheit ohne Mut!" Am 3. Mai 1999 tritt Hans den Wehrdienst an; in Kniebundhose, hellbraunem Hemd, mit Kartenmeldetasche und einem Hitlerbart unter der Nase meldet er sich in der Klotzberg-Kaserne in Idar Oberstein. Es dauert ein halbes Jahr, bis die Truppe, die Verteidigungsminister Rudolf Scharping für ihr erbarmungsloses Vorgehen gegen alles Braune lobt, erkennt, dass sie einen bekennenden Neonazi an der Waffe ausgebildet hat. Erst als Hans am 13. September auf der Stube zu laut über "Judenschweine" herzieht und einen Obergefreiten für die JN werben will, wird gegen ihn ein siebentägiger Arrest verhängt. Vereidigt wurde er zuvor dennoch, auf die freiheitlichdemokratische Grundordnung. Am 11. November 1999, sechs Monate nach seinem Dienstantritt, schreibt Brigadegeneral Axel Bürgener, einen Brief an Hans. Dem "Herrn Gefreiten" wird mitgeteilt, dass er wegen "Gefährdung der militärischen Ordnung" fristlos aus der Bundeswehr entlassen wird. Das Dokument führt detailliert auf, wie offen der Neonazi seit Dienstantritt seine verfassungsfeindliche Grundeinstellung offenbarte: In einem Gespräch mit BttrChef, 2./BeobPzArtLehrBtl 51 am 03.05.99 gaben Sie an, dass Sie aktives Mitglied der Jungorganisation der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands seien und ihren politischen Werdegang innerhalb der Partei auf Landesebene suchen. Sie befürworten und bejahen die Wiking-Jugend, Ihre Mitgliedschaft sei an deren Verbot gescheitert. Zur Zeit ist ein Verfahren nach §86a StGB ( Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) gegen Sie anhängig. Bei einer Vernehmung durch den BttrChef, 2./BeobPzArtLehrBtl 51 am 05.05.99 gaben Sie an, dass Sie gemeinsam mit Gleichgesinnten Ausbildungen wie z. B. Zeltlager oder Anschleichen, sowie Bekämpfen eines MG-Nestes nachempfunden haben (ohne Waffeneinsatz). Sie haben mehrmals an Demonstrationen wie z. B. gegen die Wehrmachtsausstellung teilgenommen. Die große Liebe Als die Sonnenwendfeier steigt, dient Hans noch in Idar-Oberstein. Ihm gefällt zwar nicht, dass ihm Carla an diesem Abend seinen Schlafsack entwendet und er in Herbis Auto übernachten muss. Doch er findet Gefallen an der burschikosen Frau seine erste große Liebe. Hans wird den Müllers vorgestellt. Die HNG kannte er nur vom Hörensagen. Das nationalsozialistische Mausoleum in Gonsenheim beeindruckt ihn. Im "kleinen Walhall", einer Art Bar im Wohnhaus, darf er eine echte Hakenkreuzfahne bewundern. Und von Curt Müller kann er noch viel über den Nationalsozialismus lernen. Carla und Tina wollen auch dazugehören. Mit arischblond gefärbten Haaren, Braunhemd und Springerstiefeln marschiert Tina fortan in die Schule. Abends bringt sie mit ihrer Mutter Aufkleber an Laternenmasten und Eingangstüren an. Die Aufkleber, auch größere mit dem Motiv Rudolf Heß, gibt es kostenlos bei Müllers. In der Nacht zum 26. August 1999 begehen Carla, Tina und Hans ihre erste gemeinsame Straftat. Sie setzen sich ins Auto und fahren nach Worms. An der historischen Stadtmauer parken sie Carlas Wagen. Hans, als zu behäbig für die Aktion befunden, muss auf dem Beifahrersitz ausharren. Carla und Tina schleichen sich langsam Richtung Judengasse durch die Nacht. Ihr Ziel ist die Synagoge von Worms. Während die Mutter zur Spraydose greift, steht die Tochter Schmiere. "Juda verrecke", "Deutschland erwache", Hakenkreuze und Wolfsangel werden auf die Nordwand der Synagoge gesprüht. Einmal in Fahrt beschmiert Carla auch das benachbarte Raschi-Haus, ein Gemeindezentrum. Gut einen Monat später, nach einem Angriff "linker Zecken" auf das Auto des hessischen JN-Vize Frank Ludwig, unternehmen sie eine Vergeltungsaktion. Sie verlassen eine Geburtstagsparty und fahren zum Sitz der Antifa im Stadtzentrum von Gießen. Sie sprühen derart auffällig Hakenkreuze ans Haus, dass eine Polizeistreife sie abgreift; die Nacht verbringen sie auf der Wache. Für diese Tat müssen sie sich vor Gericht verantworten. Nur drei Tage später sind sie auf dem Weg nach Biblis. Sie wollen zum Konzert von Frank Rennicke. Doch sie werden von der Polizei gestoppt. In ihrer Montur gleichen sie so sehr der SA, dass sie wieder auf der Polizeiwache landen: wegen Verstoßes gegen das Uniformierungsverbot. Drei Tage später, Hans ist krank und übernachtet in der Klotzberg-Kaserne in Idar-Oberstein, folgt die letzte Straftat. Wieder wollen sie sich Ursel Müller beweisen, die für den Hass in ihren Köpfen sorgte. Carla und Tina schreiten zur Tat: "Wir wollten ein Fanal setzen!" Vorher hatten sie in der Szene gehört, was es bei der Schändung von jüdischen Friedhöfen zu beachten gilt: immer Handschuhe anziehen, dazu Gummistiefel und Papieroveralls, wie Lackierer sie benutzen, aus dem Baumarkt. Nach der Tat sofort beseitigen und schweigen. In der Nacht zum 28. September 1999 setzen sich Mutter und Tochter wieder ins Auto. Erneut fahren sie Richtung Worms. Kurz hinter einer ehemaligen Tankstelle parken sie das Auto auf einem Feldweg. Handschuhe an, Spraydose aus dem "Sondereinsatz-Koffer", der immer im Auto liegt, und los. Carla klettert auf die fast zwei Meter hohe Mauer des jüdischen Friedhofs in Alsheim, zieht ihre Tochter Tina, die Knieprobleme hatte, in der Dunkelheit hoch. Sie stürzen 35 Grabsteine um, einige zerbrechen. Während Tina weiter Gräber schändet, sprüht Carla mit schwarzer Farbe "Juda verrecke", "Deutschland erwache", "Zion stirb", ein Hakenkreuz und andere Symbole der rechten Szene an die Friedhofsmauer. Wenig später verschwinden Turnschuhe und Spraydose im Rhein. Der einsetzende Regen beruhigt sie. Hans wird über die Aktion unterrichtet: "Wir haben Gärtnerarbeiten gemacht." Zwar sorgt er sich, weil der Tatort zu nah an der Wohnung der inzwischen regional bekannten Rechtsextremisten liegt. "Wir sind doch voll im Fahndungsraster der Polizei", denkt der Neonazi. Allerdings beruhigt auch ihn der Regen, der die Spuren verwässern soll. Ein Irrtum, wie sich bald herausstellt. Hans, mittlerweile aus der Bundeswehr entlassen, widmet sich als Arbeitsloser noch intensiver der Bewegung. Noch ein- mal taucht er mit Carla, die inzwischen ahnt, dass die Straftaten auch zu Strafen führen, in die Welt der Neonazis ein. Anfang Dezember fahren beide Richtung Harz, um an einer Julfeier, der Wintersonnenwende, teilzunehmen. Geladen hatte die Artgemeinschaft. In diesem Zirkel verkehren die vermeintlichen Vordenker der rechtsextremen Bewegung. Der eingetragene Verein beruft sich auf die "germanischen Sittengesetze". Angeführt vom Hamburger Neonazi-Anwalt Jürgen Rieger, wird das "Sittengesetz unserer Art" postuliert, dass die "gleichgeartete Gattenwahl, die Gewähr für gleichgeartete Kinder" und "Härte und Hass gegen Feinde" vorschreibt. Unter dem Deckmantel religiöser Veranstaltungen trifft man sich im Verborgenen. Mitglieder der Artgemeinschaft erhalten folkloristisch klingende Einladungen: "Am Sonnabend Abend findet unser bunter Abend um den Metkessel mit Singen, Volkstanz und spontanen Beiträgen von Gefährten statt." Wohin die Mitglieder fahren müssen, erfahren sie erst nach ihrer verbindlichen Anmeldung. Das rechtsextreme Pärchen kommt spät in dem ostdeutschen Wintersportort an. Noch auf dem Parkplatz der Ferienanlage streiten sie sich. Carla will das verhasste Kleid nicht anziehen. Doch sie fügt sich. Der Saal des Gasthofs ist gut gefüllt. Etwa 150 Anhänger des neofaschistischen Germanenkults haben sich versammelt. Als erstes kommt den beiden der ehemalige Rechtsterrorist Manfred Roeder entgegen. Auch Steffen Hupka, 85, ist dabei. Der NPD-Funktionär, Ex-Führungskader der verbotenen "Nationalistischen Front" (NF), ist direkt nach dem Fall der Mauer nach Quedlinburg in den Ostharz gezogen. Er koordiniert die neofaschistischen Aktivitäten in Sachsen-Anhalt. Auf einem Stuhl sitzt eine alte Frau, der sie artig die Hand geben. Florentine Rost van Tonningen, 84, eng befreundet mit der Tochter Heinrich Himmlers, Gudrun Burwitz. Auf Wunsch erzählt sie Anekdoten von Himmler. Die leise sprechende Frau war mit Meinoud Marinus van Tonningen verheiratet, Sturmbannführer der Waffen-SS und im Dritten Reich Präsident der niederländischen Nationalbank. In ihrer Villa trafen sich über Jahre die verbliebenen Getreuen des verstorbenen deutschen Neonazi-Führers Michael Kühnen. Van Tonningen küm mert sich in den Niederlanden, wie Ursel Müller in Deutschland, um die so genannten politischen Gefangenen. "Consortium de Levensboom" heißt ihre Organisation. Carla und Hans plaudern mit Hans-Jürgen Hertlein, Landesführer des "Stahlhelm" in Rheinland-Pfalz. Die Organisation ruft in ihrem Kampfblatt "Frontsoldat" dazu auf, für "die neue Zeit zu kämpfen", in der Deutschland wieder eine souveräne Regierung habe. Wenig später unterhält sich Hans mit Jürgen Mosler, 44, Ex-Generalsekretär der verbotenen FAP. Auch Frank Rennicke fehlt nicht in diesem illustren Kreis. In einem Hinterzimmer bieten Antiquariate und Devotionalienhändler ihre Waren feil. Unter der Hand werden auch indizierte Musikkassetten verkauft, etwa vom "Weißen Arischen Widerstand" (WAW). Bevor der Kesse l mit dem süffigen Honigtrank vom Zeremonienmeister Rieger durch das dreimalige Leeren eines Methorns freigegeben wird, müssen die Gäste den "Auftanz", eine Art Polonaise, absolvieren. Der Ausstieg Am nächsten Morgen brechen beide, auf Drängen von Carla, wieder Richtung Mainz auf. Auf erbauliche Vorträge muss Hans verzichten. Carla plagen mittlerweile Alpträume. Sie wird das Gefühl nicht los, abgehört zu werden. Zu Ursel Müller und der HNG war sie schon nach den Straftaten auf Distanz gegangen. Langsam bröckelt der Spaß am nationalen Widerstand und die Motivation, sich den Regeln der Bewegung zu unterwerfen. "Mir hat dann auch meine Musik gefehlt. Ich hab öfter an die Red Hot Chilli Peppers gedacht. Das kannste alles nicht mehr hören", denkt sich Carla. Immer häufiger kommt es zum Streit mit Hans. Nachdem sich Carla ihrer Tochter anvertraut hatte, rückte sie ihre alten CDs und Bücher wieder nach vorne ins Regal. Kurz vor Silvester kommt es zum Eklat mit ihrem Verlobten, der inzwischen allein der Szene die Treue hält. Carla nimmt die Heß-Plakate und Führerbilder ab, stopft die antisemitischen Hetzschriften in einen Koffer. Hans zieht zu seinem Vater. Sie probieren eine Beziehung auf Distanz. Wieder kippt die Stimmung bei Carla und Tina. Eben noch mit Begeisterung in der Neonazi-Szene, wollen sie jetzt von all dem nichts mehr wissen. Doch Hans vermisst Carla. Nach einem Silvesterbesäufnis mit heftigem Streit versöhnen sie sich wieder. Hatte Hans seiner Lebensgefährtin bisher mit der Glorifizierung des Nationalsozialismus zu einem simplen Weltbild mit Überlegenheitsgarantie verholfen, setzt sie ihm jetzt mit bohrenden Fragen zu. Warum die Nazis Bücher verbrannten, will Carla wissen, wenn die Bewegung so toll gewesen ist? Das Urteil Am Morgen des 24. Februar, um sieben Uhr, steht die Polizei vor ihrer Tür. Tina und Hans werden in getrennten Fahrzeugen nach Mainz aufs Polizeirevier gebracht. Carla muss während der folgenden Hausdurchsuchung in der Wohnung bleiben. Eigentlich ist sie erleichtert. Während Tina im Mainzer Polizeipräsidium vernommen wird, überlegt die Mutter, alles auf ihre Kappe zu nehmen, um der Tochter die Zukunft nicht zu verbauen. Sie hat Angst, dass Tina nach einer Verurteilung keine Lehrstelle bekommt. Tina will erst mit Rücksicht auf Carla nicht aussagen, packt dann doch aus, nachdem ihr die vernehmende Beamtin gesagt hatte, sie wisse ohnehin schon alles. Unterdessen ist auch ihre Mutter auf dem Weg zu ihrem Verhör. Schon auf der Fahrt zum Präsidium will sie alles erzählen. Nur Hans, der inzwischen auf das Polizeirevier in Mainz-Lerchenberg verlegt wurde, zögert noch. Weder seine Verlobte noch deren Tochter will er belasten. Er gibt zu, zu wissen, wer den jüdischen Friedhof in Alsheim geschändet hat, nur Namen will er nicht nennen. Während Carla die Nacht in einer Zelle verbringt, wird Tina nach Hause geschickt. Erst am nächsten Morgen, ohne zu wissen, ob Tina sich zu ihren Taten bekannt hat oder nicht, beichtet auch Carla. Der schweigende Hans wird mit der Bemerkung entlassen, er werde noch von der Polizei hören. Nach gut zwei Wochen will er sich dort freiwillig gemeldet und darauf gedrängt haben, auszusagen. "Dann habe ich halt erzählt, wie das mit der Synagoge in Worms war", erklärt Hans mit leiser Stimme. Die Ermittler erfahren von ihm auch Hintergründe aus der rechten Szene, die nicht für die Straftaten relevant waren. Mit dieser Aussage ist Hans zum Verräter geworden. Alle drei verzichten auf einen Handel mit der Staatsanwaltschaft Wissen gegen ein mildes Urteil , hoffen aber, dass ein Geständnis nicht von Nachteil ist. Vier Tage nach der Hausdurchsuchung schreiben Mutter und Tochter einen Brief an die jüdische Gemeinde in Mainz und entschuldigen sich für ihre Taten. Carla gibt den Brief persönlich ab. Der angerichtete Sachschaden, so erfahren sie im Juli dieses Jahres durch die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft aus Mainz, beträgt 20 000 Mark. Es droht eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren. Auf einen Anwalt für den bevorstehenden Prozess am Jugendschöffengericht in Mainz verzichten sie, "weil die Taten, die wir begangen haben, nicht zu verteidigen sind". Hans, dem die Abkehr von der Szene schwerer fällt ("Das waren ja meine Freunde"), schreibt seinen Entschuldigungsbrief erst Ende März. So wie er sich früher die antisemitische Ideologie seines Idols Julius Streicher erarbeitet hat, erliest sich Hans nun seine Kritik am eigenen Weltbild. So wie er früher antisemitische Propaganda verbreitet hat, will er jetzt mit seinem Wissen über die Mechanismen und die Dynamik der rechtsextremen Bewegung berichten. Er sieht sich schon als Anlaufstelle für Journalisten. "Jeder kann bei uns seine Meinung frei äußern. Voraussetzung ist allerdings: Sie entspricht der von uns veröffentlichten", lautet einer der Stempel auf den Briefen Curt Müllers, die er den dreien immer noch hinterherfaxt. Er fordert die ausgeliehenen Bücher von den ehemaligen HNG-Mitgliedern ein. Doch das eine, das sie ihm noch nicht zurückgeschickt haben, lagert in der Asservatenkammer der Polizei. Es ist ein in Neonazi-Kreisen beliebtes Buch: "Gedenkstätten der Opfer des Nationalsozialismus". Die aufgeführten Adressen dienten als Wegweiser für Attentäter. CAROLIN EMCKE, CHRISTOPH MESTMACHER © DER SPIEGEL 39/2000 Vervielfältigung nur mit Genehmigung des SPIEGEL-Verlags |
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